Gottes kleine Faust – Kapitel 14: Gibt es Gott?

Matthias und Angie saßen im Boot und ließen sich in der warmen Herbstsonne treiben. Matthias hatte bereits im Boot auf sie gewartet. Startklar. Sie hatten sich begrüßt wie zwei … „Verschworene“, die sich nicht viel zu sagen brauchten. Angie war einfach zu Matthias ins Boot gesprungen und Matthias hatte sofort mit dem Hinausrudern begonnen. Sie erkannte sofort, dass sie ihm nicht erzählen musste, was geschehen war. Matthias wusste Bescheid! Dass Angie selbst gar nicht so sehr Bescheid wusste, machte im Moment nichts. Sie schaute über den Bootsrand und war froh, endlich wieder mit Matthias zusammen zu sein. Dabei hatte sie ihn doch erst gestern gesehen… Angie überlegte, was wohl als Nächstes passieren würde. Doch alles blieb erst einmal ruhig. Keine neutestamentliche Figur erschien, das Spiegelbild im Wasser verhielt sich „naturwissenschaftlich korrekt“ und vom Bösen war weit und breit nichts zu fürchten. Angie wurde mutig:

„Matthias. Gibt es Gott?“

Angie war selbst ganz erschrocken über die Frage. Sie war ihr irgendwie rausgerutscht. Ganz plötzlich. Sie hatte über das Wellen- und Lichterspiel sich selbst verloren und während des sanften Gleitens über den See nachgedacht. Sie hatte, fast genießerisch, alles in sich hineingesogen. Und in der Sicherheit, die von dem Zusammensein mit Matthias ausging, war sie ins Nachdenken gekommen und scheinbar unbemerkt war diese eine Frage „rausgerutscht“.
Matthias ist ein Engel, hatte sie vor sich hingeträumt, dann muss er doch eigentlich die Frage nach Gott beantworten können …und schwups, schon war die Frage draußen. Wupp! Mit einem Mal.

Matthias war ganz und gar nicht überrascht. Er ruderte weiter und antwortete seelenruhig:

„Natürlich gibt es Gott, Angie.“

Verrückt, dachte Angie. Kommt denn Matthias nie aus der Fassung? Sie suchte seinen Blick und hakte nach:
„Aber warum sieht man ihn dann nicht?“

Matthias hörte auf zu rudern. Er schaute erst Angie an, dann antwortete er, während er mit der rechten Hand ringsherum deutete
„Schau dich doch um. Ich sehe ihn überall!“

Angie war seinem Blick und der Hand gefolgt und protestierte:
„Nein, das meine ich nicht. Mir reicht es nicht zu hören: Gott ist überall, Gott lässt alles wachsen und Gott lässt die Sonne aufgehen und so… Ich möchte IHN sehen!“

Eine Pause entstand.

„Wer sagt dir, Angie, dass Gott eine Person ist?“
Angie war für einen Moment baff.
„Ist er das nicht?“
„Das habe ich nicht gesagt,“ antwortete Matthias. „Aber überlege mal selbst: Warum stellen sich die Menschen immer Gott als Mann vor? Meistens sogar als alten Mann auf einem Thron. Findest du nicht auch, dass das viel zu menschlich gedacht ist? Gott ist anders!“

 

Er ruderte ein paar Schläge und überlegte laut.
„Wahrscheinlich würden sich Ameisen ihren Gott als Super-Ameise vorstellen und Fische…“, er zeigte auf Kreise, die an der Wasserüberfläche auf einen ganzen Schwarm hinwiesen, „…würden sich Gott als Super-Fisch denken. Vögel würden sich einen Super-Vogel vorstellen und Elefanten würden sich Gott als einen großen, tollen Elefanten denken.“
Er sah Angie an.
„Ich weiß nicht, ob Tiere wirklich denken können, Angie. Aber ich weiß, dass sie nicht wie wir Menschen nach Gott fragen. Die Tiere glauben nicht an Gott, weil sie gar nicht die Frage nach Gott stellen wie du, Angie. Und das müssen sie auch gar nicht. Sie sind Gottes Schöpfung und leben in den Tag, ohne ihr Leben in Frage zu stellen. Tiere leben in einem stillen, geheimnisvollen Einklang mit der Natur. Nur wir Menschen machen uns Gedanken über unser Dasein. Nur wir Menschen fragen danach, woher wir kommen und wohin wir gehen, wenn wir gestorben sind. Zu jeder Zeit, immer schon, wollten die Menschen wissen, wodurch und wozu alles entstanden ist und was im Himmel und auf der Erde zu entdecken ist…“

Angie sah still einem Schwarm Fische nach. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken ge-macht. So etwas hatte sie noch nie überlegt, stellte sie fest.
Wohin die wohl schwimmen, fuhr es ihr durch den Kopf? Ob sie wissen, wie Gott aussieht?

Sie ließ eine Hand ins Wasser gleiten und fragte angestrengt nachdenkend Matthias, der nicht mehr ruderte: „Aber wie soll ich mir Gott denn sonst vorstellen, wenn nicht als Mensch?“

„Das musst du doch gar nicht!“ antwortete Matthias.

Jetzt wurde Angie fast etwas ärgerlich
„Aber eben hast du doch gesagt… Das verstehe ich nicht.“
Sie blickte Matthias fragend an. Der lachte zurück und erklärte:
„Ich meine es im Ernst: Gott „weiß“ im Grunde, dass er nur sehr schlecht für Menschen zu erfassen ist! Und deshalb hat er sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen…“
„Was denn?“ rief Angie gespannt.
„Er hat Jesus geschickt, der das Unbegreifliche, das die Menschen schon immer „Gott“ nennen, begreiflich und menschlich anschaulich machen soll.“
Angie zog die Augenbrauen hoch.

Matthias erklärte weiter:
„In Jesus bekommt Gott ein Gesicht und Hände und Füße und Nase und Augen und Ohren. Und was das Wichtigste ist: Gott bekommt auch einen Mund. Einen absolut menschlichen Mund sogar.“

Angie war plötzlich verwirrt. Antwortete Matthias immer noch auf ihre Frage?

„Ist Jesus dann also Mensch oder Gott?“ fragte sie ratlos.

„Er ist Gott und wird Mensch!“ antwortete Matthias ohne zu Zögern. Als sei es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. Aber für Angie war es noch nicht selbstverständlich. Es war ihr ganz unverständlich!

 

 

Sie dachte an Weihnachten und an die Geschichte mit Maria und Josef und der Krippe.
„Gott wird also Mensch ?-… In einem Kind ?“ fragte sie Matthias langsam und zögerlich, als probierte sie eins und eins ganz langsam zusammen zu zählen.

„Beinahe unglaublich, aber es ist wahr“ antwortete Matthias. „Gott beginnt bei den Menschen ganz klein und schwach und zart.“
Er machte eine Pause, als ob er wartete, bis Angie mitkam. Dann setzte er – beinahe vorsichtig – seine Erklärung fort.
„Das ist wie mit dem Glauben der Menschen an Gott. Auch der beginnt ganz klein und schwach und zart. Wie ein Baby. Die Hirten auf dem Feld vor der Stadt Bethlehem haben ein neugeborenes Kind gesehen. Nicht mehr. Nur ein Baby in Windeln gewickelt! Sie waren sich aber bewusst, dass sie in dieser Nacht etwas ganz Besonderes erlebt hatten. Und sie begannen zu glauben, dass dieses Neugeborene die ganze Herrlichkeit Gottes darstellt, und dass dieses Kind für ihre Erlösung sorgen werde.“

Angie staunte. Von Matthias Augen wanderte ihr Blick wieder ins Wasser. Sie starrte hinein und dachte nach.
„Das ist ja ein merkwürdiger Gott“, sagte sie, immer noch sehr leise und langsam. Als ob sie das Ergebnis ihrer Überlegungen – ähnlich wie so oft in Mathematik – vor sich sah und doch an der Richtigkeit zweifelte.
„Dann ist Gott tatsächlich anders, als ich ihn mir vorgestellt habe…“

Minutenlang sagte sie nichts und hing weiter ihren Gedanken nach. Matthias beobachtete sie aufmerksam. Es dauerte eine ganze Weile, dann schaute sie ihn wieder an und fragte:

„Hast du Gott schon gesehen, Matthias?“

„Du kannst einem ganz schön Löcher in den Bauch fragen.“ Wieder lächelte Matthias. „Aber ich wette, du hast Gott auch schon gesehen, Angie“, antwortete er. Und er klang überzeugt und sicher. „Ganz bestimmt hast du ihn schon gesehen. Überleg doch mal.“

Angie überlegte, wusste aber nicht, auf was Matthias hinaus wollte. Sie hatte Gott bisher noch nicht gesehen, das stand fest. Diese Wette würde sie gewinnen, das stand fest.
„Das verstehe ich nicht, Matthias. Wie meinst du das?“

„Ich weiß nicht, ob es für heute ein bisschen viel wird.“
Er schaute auf die Uhr, doch Angie war überzeugt, dass die Zeit still stand.
„Ich will versuchen, es zu erklären. Mein Freund der „Adler“ hat es, glaube ich, am besten von uns Evangelisten ausgedrückt. Er hat einen wunderbaren Brief geschrieben, in dem er es besonders gut erklärt. Seine Antwort auf deine Frage ist ganz einfach: Gott ist die Liebe.“

Seine Augen ruhten auf Angie, die ihn überfordert und stumm ansah. Doch er machte weiter, als bemerkte er die Anstrengung Angies nicht.
„Überall, wo dir Liebe begegnet, Angie, überall wo du Liebe empfindest, überall wo du sie siehst oder fühlst“, er machte wieder eine Pause, „ da ereignet sich Gott! Da siehst du ihn, da triffst du ihn, da begegnet dir Gott!“

 

 

Angie sah Matthias jetzt fassungslos an. Dann rang sie um Fassung und fragte fast tonlos:
„Und wenn ich liebe?“

Matthias lächelte und seine Augen begannen seltsam zu leuchten. Es war, als ob Angie nun an dem Punkt angelangt war, an dem sie landen sollte.

„Wenn du liebst,“ antwortete Matthias, „dann liebt Gott durch dich!“
Er nickte ihr geradezu begeistert zu. Er hatte die Ruder aus der Hand gelegt und beide Hände von Angie genommen.
„Dann bekommt Gott dein Gesicht und deine Hand und dein Mund und dein Ohr, Angie! Durch dich, Angie, lebt Gott, wenn du liebst.“

Angie wollte aufschreien. Sie wollte widersprechen. Sie wollte…. aber sie blieb stumm. Der Aufschrei fand statt, aber er drang nicht nach außen. Zu sehr war sie beschäftigt, alles zu verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. Alles in ihr war in Aufregung. Tobte. Alles in ihr war durcheinander… und fand nicht mehr zusammen. Es überschlug sich in ihr. Ihr wurde heiß. Glühheiß. Sie wollte sich übergeben. Aber bevor sie sich übergeben konnte, wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein. Sie kippte zur Seite und fiel in einen schlafähnlichen Zustand.

 

Sie träumte.

Sie träumte von einem Adler, der auf einem Berg sein Nest hatte. Er saß dort und fütterte sein Junges. Angie wusste nicht, wie sie auf den Berg gekommen war, doch sie war in unmittelbarer Nähe des Nestes und sah den Adler, der die Fütterung gerade beendet hatte.

Angie wunderte sich über die Größe des Adlers. Noch nie hatte sie einen Raubvogel aus der Nähe gesehen und sie fürchtete entdeckt zu werden. Sie wusste, dass Tiere, ganz besonders Raubtiere, ihre Jungen um jeden Preis beschützten. Blind gegen jede Gefahr und ohne auf ihr eigenes Leben zu achten. Davor fürchtete sie sich jetzt sogar im Traum. Denn dass sie in einem Traum war, war ihr – so merkwürdig es ihr auch schien – von Beginn an klar.

Das Jungtier war auf einmal gar nicht mehr so klein. Es war größer und stärker geworden, als es ihr noch vor ein paar Minuten schien. Der Adler schubste und stupste das Junge behutsam an den Rand des Horstes und forderte den Kleinen auf zu fliegen.
Wieso Angie das wusste, war ihr nicht klar, aber dass es so war, wusste Angie ganz sicher.

Gespannt schaute sie hinüber. Der kleine Adler flog wacklig und unsicher. Angie hatte Angst um ihn. Doch dann beobachtete sie etwas, was sie als wunderschön empfand: der große Adler flog ganz dicht unter dem Kleinen. Er breitete seine langen Fittiche aus und bildete so eine Art Netz unter ihm. Und jedes Mal, wenn der Kleine abzustürzen drohte, verkürzte der Adler den Abstand zu dem Jungtier und stupste es liebevoll wieder in die waagerechte Flugposition zurück.

Fasziniert sah Angie den Flugversuchen zu.

Der Adler begleitete das Kleine den ganzen Berg hinunter. In großen und dann in immer kleiner werdenden Kreisen ging es den ganzen Berg hinunter. Niemals ließ der große Adler den kleinen Adler alleine. Immer bereitete er das Fangnetz mit Hilfe seiner Flügel. Angie war, als fliege sie mit und auch sie fühlte sich mit jeder neuen Runde sicherer. Bei seinem letzten Kreis überflogen die beiden Adler Angie. Da löste sich plötzlich aus dem Federkleid des großen Adlers eine Schriftrolle und landete direkt in den Armen Angies.

Angie wachte auf.