Gottes kleine Faust – Kapitel 26: Die Katastrophe

Angie erwachte aus der Ohnmacht.

Sie lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Oma hielt ihre Hand.
Ein nasses Handtuch bedeckte die Stirn und fremde Menschen liefen aufgeregt hin und her. Angie erkannte Feuerwehruniformen und Sanitäter. Blaulicht drang durch die Fensterscheiben und färbte die weiße Tapete seltsam kalt. Angie fröstelte. Mit einem plötzlichen Ruck setzte sie sich auf.
„Was ist mit Mama!“, flüsterte sie ängstlich und sie drückte die Hand der Oma noch fester.

Jetzt erst sah sie der Großmutter ins Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. In der freien Hand hielt sie ein klatschnasses Taschentuch, mit dem sie sich immer wieder die Tränen wischte.
„Ach Angie!“, schluchzte sie. „Angie, Mama ist…“.

Weiter kam sie nicht. Eine Frau in weißem Kittel hatte bemerkt, dass Angie aus der Ohnmacht erwacht war. Sofort kam sie zu ihr und sagte:
„Ich bin Dr. Cora Baum. Du darfst gerne Cora zu mir sagen.“
Sie versuchte Angie freundlich zu zuzwinkern. Aber Angie bemerkte es nicht. Sie starrte nur auf den Mund der Frau, die ganz offensichtlich eine Ärztin war.
„Angie du musst jetzt sehr tapfer sein. Und sie auch, Frau Faust.“
Sie hatte sich vor dem Sofa abgehockt und schaute Angie direkt in die Augen. Angie erkannte Mitleid und Hilflosigkeit. Die Stimme aber klang freundlich:
„Was ist mit meiner Ma?“, fragte sie leise.
Oma weinte wieder hinter ihrem Taschentuch. Ihre Hand hielt Angies so verkrampft fest, dass sie schmerzte.

„Ist sie tot?“

Wilde Panik stieg in Angie auf. Sie sah wieder den leblosen Körper der Mutter zwischen dem Rauch und den Flammen. Auch die Hitze war wieder da.
Auf einmal fürchtete sie sich vor der Antwort der Ärztin. Niemals zuvor wünschte sie sich eine Antwort so sehr und niemals vorher hatte sie sich jemals vorher so sehr vor einer Antwort gefürchtet.
Cora streichelte Angie sanft über die Stirn und strich ihr das Haar zur Seite. Dann antwortete sie ruhig:
„Wir haben deine Mutter sofort ins Krankenhaus gebracht. Sie hat schwere Verbrennungen, aber wir versuchen alles, sie zu retten.“

„Mama!“, flüsterte Angie und sah durch die Notärztin hindurch.
Ihr Kopf, der eben noch voll Panik die Antwort erwartet hatte, schien plötzlich leer.
Wie sich das Meer immer zwischen zwei Wellen zu beruhigen scheint, so schien Angie für einen Moment ganz ruhig zu sein. Aber dann kam die nächste Welle der Angst.
Höher, kräftiger, brutaler.
Mit einem Mal begriff sie die schreckliche Wirklichkeit: Ihre Mutter kämpfte um das Überleben! Sie lag jetzt irgendwo in der Klinik und rang mit dem Tod.

Tränen schossen aus Angies Augen, die immer noch maskenhaft die Ärztin anstarrten. Cora Baum streichelte erneut über Angies Gesicht. Sie wollte Mut machen und trösten, aber es fielen ihr keine passenden Worte ein.

„Alles wird gut, Angie!“, sagte sie mit einem Mal und drückte Angie wie ein kleines Kind an sich. „Dein Papa ist mit deiner Mama in die Klinik mitgefahren. Er bleibt bei ihr. Sobald er kann, kommt er hierher zu dir zurück.“
Sie richtete Angie ein wenig auf, um ihr wieder direkt in die Augen zu sehen.
„Du darfst jetzt nicht schlapp machen, hörst du! Wenn du deinem Vater und deiner Mutter helfen willst, dann musst du jetzt ganz stark sein. Willst du das versuchen“

Angie nickte. Antworten konnte sie nicht. Ihr war heiß und kalt. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Panik kam nicht mehr in Wellen, aber sie war immer noch erfüllt von ihr. Und sie hatte verstanden: sie durfte nicht in ihr „ertrinken“.
Mit Mühe konzentrierte sie sich: Papa war jetzt bei Mama.
Warum konnte sie nicht bei ihrer Mutter sein?

„Ich will zu meiner Ma.“, brach jetzt Angie ihr Schweigen. „Ich muss jetzt bei ihr sein!“
Cora schüttelte sanft den Kopf.
„Das geht nicht. Nicht jetzt. Deine Mutter ist jetzt sicher schon im OP und wird operiert. Da kannst du nicht helfen.“
„Aber Papa ist doch auch bei ihr.“
„Dein Papa ist Arzt, das weißt du. Das macht einen Unterschied. Findest du nicht auch?“

Cora sah Angie an und Angie merkte auf einmal, dass sie mehr wusste, als sie bisher gesagt hatte.
„Was ist eigentlich passiert?“
Cora zögerte, dann aber erzählte sie alles, was sie wusste:
„Deine Mutter hat schreckliches Pech gehabt. Der Pullover, den sie getragen hat, hat sich bei der großen Hitze im Brennofen entzündet und sich in ihre Haut gebrannt.“

Angie erschrak: der rote Fleece-Pullover! Das war Mamas Lieblingspullover. Den sie trug sie bei der Arbeit immer am liebsten, wie einen Talismann. Egal ob Sommer oder Winter.
Wie oft hatte die Mutter Angie gewarnt, dass man mit dem Fleece vorsichtig sein musste, weil er sich so leicht entzünden konnte! Wie oft hatte Angie gedacht, so schlimm wird’s schon nicht sein. Und jetzt lag Mama mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus!

Das Telefon klingelte.
Irgendein Mann in Uniform ging an den Apparat und kam dann mit dem Hörer zu Angie. Er blickte fragend auf die Ärztin, Cora nickte.
„Ja?“, sagte Angie leise.
„Hallo Angie! Wo steckst du denn? Und wer war der Mann am Telefon? Wir wollten doch zusammen zum Training.“
Das war Anna. Sie hatten sich verabredet, aber das schien unwirklich und weit zurück. Als ob es Wochen her war, dass sie fröhlich zusammen trainiert und zusammen gesessen hatten. Angie wusste nicht wie spät es war, hilfesuchend schaute sie Oma an, die immer eine Uhr als Kette auf der Brust trug. Es war schon nach sieben.

 

 

„Ach Anna!“, schluchzte Angie. „Mama liegt im Krankenhaus. Sie ist schwer verletzt. Ich rufe dich später wieder an. Ich kann jetzt nicht.“
Und bevor Anna begreifen konnte, was sie gehört hatte, hatte Angie schon das Gespräch wieder beendet. Cora nahm den Hörer und legte ihn zurück.
„Ich werde dir etwas zur Beruhigung geben, Angie. Dann wirst du besser einschlafen können. Du brauchst jetzt sehr viel Kraft.“

Dann wandte sie sich der Oma zu.
„Ich werde ihnen auch etwas geben. Meinen sie, dass sie mit Angie allein zurecht kommen werden, oder sollen wir eine Schwester hier behalten?“
„Nein das geht schon“, antwortete jetzt Oma Faust. Ihre verweinten Augen waren jetzt ohne Tränen. Sie versuchte sich zusammen zu reißen. „Wir werden das schon schaffen. Haben Sie vielen Dank.“

Sie griff nach der Hand der jungen Ärztin und drückte sie dankbar. Während Cora Baum zu ihrer Tasche ging, um etwas zur Beruhigung für die Nacht auszuwählen, sah die Oma Angie an.
Es war ein stiller Blick. Worte waren auch nicht nötig.
Angie stand auf und umarmte ihre Oma. Das stärkte beide. Angie war froh nicht alleine zu sein.
Wann würde sie ihre Mutter wieder so drücken können?
Wenn doch nur ihr Vater schon wieder zurück wäre. Sie würde bestimmt die ganze Nacht kein Auge zumachen können. Das war sicher.

Die Ärztin kam mit einer Tablette zurück, die sie in einem Glas Wasser auflöste. Sie schmeckte säuerlich und die Zähne wurden ganz stumpf davon. Das sollte sie beruhigen? Angie wollte hinauf auf ihr Zimmer. Oma Faust ging mit ihr und brachte sie zu Bett. Dabei sagte sie die ganze Zeit kein Wort. Auch vermied sie es, Angie offen anzuschauen. Sie umarmten sich noch einmal, dann ging die Großmutter wieder hinunter, um abzuwarten, bis die letzten das Haus verlassen hätten. Sie versprach jedoch, später noch einmal nach Angie zu sehen.

Angie legte sich ins Bett. Sie hatte Angst nachzudenken. Wie aber sollte sie sich ablenken? Ob sie noch ein paar Seiten lesen sollte? Oder sollte sie noch in ihr Tagebuch schreiben? Und in dem Moment fiel ihr wieder Matthias ein!

Matthias! Na klar! Er war doch ein Engel. Er konnte bestimmt Mama wieder gesund machen! Wenn nicht er, wer sonst, dachte sie.
Hoffnung und Freude durchströmten Angie und ihre kalten Glieder fühlten sofort wohlige Wärme aufsteigen. Mit einem Satz war sie aus dem Bett und bei der Heizung. Mit dem Tagebuch in der Hand sprang sie wieder zurück in die Federn.
Hastig blätterte sie bis zur letzten Seite. Nichts! Doch Angie blieb nicht lange enttäuscht. Schnell sprang sie nochmals aus dem Bett und lief zum Schreibtisch. Dort schnappte sie sich ihren Füller und kroch zurück unter die Decke. Einen Moment überlegte sie, dann schrieb sie:

Matthias!

Mama hat einen schlimmen Unfall gehabt. Ich habe schreckliche Angst! Sie liegt in der Klinik und wird gerade operiert. Niemand weiß, wie es ausgeht. Nicht einmal ob Mama überleben wird, ist sicher. Ich brauche dich! Du kannst Mama wieder gesund machen! Ich weiß das. Lass mich nicht im Stich! Beeile dich!

Angie

 

 

Sie wartete gespannt auf die Antwort.
Aber nichts passierte!
Bisher hatte Matthias doch immer sofort geantwortet. Warum jetzt nicht?
Komm schon, dachte Angie. Los! Mach schon! Aber das Blatt blieb leer.
Vielleicht hat er ja gerade keine Zeit, überlegte Angie, aber sie glaubte das nicht wirklich. Für Matthias galten andere Regeln als für normale Menschen. Und Matthias war kein normaler Mensch. Matthias war ein Engel.
Sie starrte auf das weiße Papier. Eine Minute. Zwei Minuten. Eine dritte Minute.
Angie wurde unruhig. Sie wurde wieder nervös. Eine neue Welle der Angst erfüllte sie. Was, wenn Matthias zu spät käme? Angie erschrak.
Ob das mit dem „Bösen“ zusammen hängen könnte?

Darüber hatte sie bisher noch nicht nachgedacht. Das Böse konnte sie treffen, es konnte aber auch Matthias treffen! Vielleicht war Matthias immer wieder so merkwürdig geworden, weil er auch damit rechnete, dass das Böse ihn treffen könnte? Hatte er nicht gesagt, dass das Böse eine Macht an sich sei? Vielleicht war Matthias selbst das Opfer des Böse geworden?

Schweißperlen setzten sich auf Angies Stirn. Ein völlig verändertes Denken setzte ein. Hatte sie sich noch bis vor wenigen Minuten ausschließlich um ihre Mutter gesorgt, kam nun eine zweite Welle der Sorge und Angst auf sie zu. Ging der Kampf jetzt los? War das Böse da?
„Nicht jetzt!“ stöhnte sie.
Bloß nicht jetzt! Sie strich über die leere, weiße Seite, als könnte sie einen unsichtbaren Schleier wegwischen, der die Nachricht von Matthias sichtbar werden ließe. Aber alles blieb unverändert.
Verzweifelt schrieb sie eine neue Nachricht.

 

Matthias!

Bitte melde dich! Ich brauche ein Wunder für meine Ma. Wo steckst du? Komm bitte schnell her, damit alles wieder gut wird.

Angie