Gottes kleine Faust – Kapitel 4: Die zweite Nachricht

Angie wachte auf und wusste sofort, dass sie nicht geträumt hatte. Noch immer lag das aufgeschlagene Lexikon neben ihr. Sie schaute auf die Uhr. Schon Viertel vor neun. Weil Samstag war, hatte ihr Wecker sie in Ruhe gelassen. Papa war sicherlich schon unterwegs zu ihrer einzigen gemeinsamen Mahlzeit in der Woche.
Schnell lief sie – noch im Schlafanzug – hinunter in die Küche, um nachzuschauen, ob der Kaffee schon gekocht war. Nein, noch nicht. Mama schlief also auch noch. Dann muss ich heute die Verantwortung übernehmen, dachte sie grinsend. Kaffee machen war eine schwierige Aufgabe, denn Angies Vater liebte guten Kaffee. Einmal hatte er gesagt, dass „Kaffee“ sein zweiter Vorname sei, weil er immer mit „Ja !“ antworte, wenn einer „Kaffee?“ rufe. Das war natürlich Quatsch, und Angie liebte ihren Vater für den Unsinn, den er mit ihr trieb. Leider waren diese Tage seltener geworden.

Angies Vater war Oberarzt im Klinikum Jahnstraße, einem großen Betonklotz nicht weit vom See. Was er genau im Krankenhaus machte, wusste Angie nicht wirklich. Sie wusste nur, dass er Operationen durchführte, und dass er ein wichtiger Mann im Krankenhaus war. Am liebsten nannte sie ihn Paps, was er eigentlich gar nicht mochte. Zumindest tat er so. Ihre Mutter nannte Angie meist Ma. Sie mochte das ebenfalls nicht besonders, aber sie hatte aufgehört, sich dagegen zu wehren. Im Gegensatz zu Angies Vater, der seit dem großen Krach woanders wohnte, war Angies Mutter meist zu Hause, obwohl auch sie arbeitete. Sie war Künstlerin und konnte oft stundenlang im Keller verbringen, wo sich ihre Werkstatt befand. Sie nannte es liebevoll „Atelier“. Manchmal saßen sie beide dort und vergaßen beim Töpfern vollkommen die Zeit und die Welt. Das waren die besten Stunden zusammen mit ihrer Ma. Der Kellerraum war ihr gemeinsames Paradies. Aber leider gab es auch noch die „andere“ Mutter, die darauf achtete, dass sie die Hausaufgaben machte und für die Schule übte.
Alles in allem war sie aber der Überzeugung, dass sie „bei der Verteilung der Mütter und Väter „echtes Glück“ gehabt hatte. Dass hatte sie einmal in ihr Tagebuch geschrieben, als sie noch kleiner war.
Doch jetzt war das große Glück getrennt. Mama und Papa hatten sich zuletzt immer öfter gestritten. Aber jetzt war Schluss damit. Für Papa und Mama ging es damit wohl besser. Wie es ihr seit der Trennung ging, hatten sie nicht gefragt. „Es tut verdammt weh!“ hatte sie ins Tagebuch geschrieben, als Papa endgültig ausgezogen war. Und am Schlimmsten war es, als ihre Mutter wieder ihren alten Namen Faust annahm. Ein Leben lang hatte sie doch Angelika Mertens geheißen! Jetzt hieß sie auf einmal wie ihre Oma: Faust. Schlimm! Sie hatte beschlossen, sich nie daran gewöhnen zu wollen. Und ein bisschen hasste sie nun ihre Mutter sogar für den Namenswechsel, auch wenn sie sich dafür schämte…

Tagebuch führte sie immer noch. Über Matthias würde sie gleich nach dem Frühstück schreiben müssen, dachte sie, während sie das Wasser in die Kaffeemaschine schüttete und 8 Löffelchen Pulver für 8 Tassen abmaß. Sie überzeugte sich noch, dass das Kontrolllämpchen wirklich leuchtete, dann rannte sie wieder nach oben in ihr Zimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch, zog die Kette mit dem Schlüssel unter ihrem Schlafanzug hervor und öffnete das Schubladenschloss. Liebevoll nahm das Buch heraus. Sie strich gewohnheitsmäßig über den Einband, als ob sie Staub entfernen wollte und blätterte es auf.

Nein. Das konnte ja gar nicht möglich sein: Da stand schon eine Nachricht!

 

 

 

Hallo Angie!

Bitte erschrecke nicht und frühstücke erst einmal. Nachher muss ich dich aber sehen. Wir haben viel zu besprechen! Komm bitte heute Nachmittag um zwei zum Bootshaus der alten Mamsel. Ich bringe einen Freund mit.
Bis später

Matthias

 

Angie sah auf die Seite in ihrem Tagebuch, als ob sie das Tagebuch ihrer Mutter versehentlich geöffnet und ein grausames Geheimnis entdeckt hätte. Erschrocken schaute sie auf den Einband, aber es gab keinen Zweifel. Es war ihres. Panisch blickte sie im Zimmer umher. War da jemand? War Matthias hier?

Nur langsam konnte sie sich beruhigen. Wie war die Nachricht in ihr Tagebuch gekommen? Ob Matthias in ihrem Zimmer gewesen war? Wie kam er dazu, in ihr Tagebuch zu schreiben? Was dachte der sich eigentlich?

Nach und nach bekam sie wieder Kontrolle über ihre fünf Sinne. In Ruhe versuchte sie zwei und zwei zusammen zu zählen.

Die Schublade war grundsätzlich verschlossen. Angie versteckte den Schlüssel immer an einem anderen Ort. Das war notwendig geworden, seitdem Oma einmal – wie sie damals behauptet hatte – das Buch „gegen ihren Willen“ gefunden und „zufällig“ ein Stück weit gelesen hatte. Damals hatte der Schüssel noch im Schloss der Schublade gesteckt, denn Angie vertraute ihren Eltern. Sie hatten ihrer Tochter erlaubt, das Buch zu führen und gleichzeitig versprochen, niemals heimlich darin zu lesen. Oma hatte eine Schere gesucht und gehofft, sie in Angies Schublade zu finden. Seit damals trug Angie den Schlüssel meist an der Kette um den Hals. Nur wenn sie zum Training ging, versteckte sie den Schlüssel. Die Heizung in ihrem Zimmer war das beste Versteck. Es gab da eine Klappe an der Unterseite, die sie leicht aufdrücken konnte. Dann war der kleine Schlüssel unauffindbar.

Sie drehte sich wieder zu dem Papier, das vor ihr lag. Matthias hatte behauptet, ein Engel zu sein.- Ob es damit zu tun hatte? Wenn Matthias tatsächlich ein Engel war… ob es ihm dann möglich war…? Eins stand fest: Die Handschrift in ihrem Tagebuch war nicht ihre….

Sie blickte wieder auf und entspannte sich. Sogar ein Lächeln setzte sich auf ihre Lippen. Da kam etwas auf sie zu, aber was? Sie fühlte auf einmal eine geheimnisvolle Stille und … Neugier. Die Sache mit Matthias war bisher nur ein Rätsel gewesen. Jetzt aber spürte sie so ein Kribbeln in ihrem Bauch aufsteigen. Nun wurde aus dem Rätsel ein richtiges Abenteuer!