Gottes kleine Faust – Kapitel 7: Wolken am Himmel

Nach dem Mittagessen packte Angie ihre Sporttasche. Sie steckte auch ihr Reli-Heft, das Schreibetui und zur Sicherheit noch ihr Englischbuch mit ein. Schließlich wollte sie ja offiziell Hausaufgaben mit Anna machen. Im Keller holte sie noch etwas zu Trinken und eine Kleinigkeit zum Naschen; nach dem Laufen liebte sie Gummibärchen besonders! Sie gab ihrer Mutter noch einen Kuss und verabschiedete sich. Ihr Vater war schon längst wieder in Richtung Klinik verschwunden. Sie hatte den „Wolf“ in der Garage aufheulen hören, als er losgefahren war.

Mit dem Fahrrad war man von der Uferstraße, in der Angie mit ihrer Mutter wohnte, nur ein paar Minuten vom See entfernt. Angie trug ihre Tasche als Rucksack auf dem Rücken und fuhr wieder mit dem Rad. Zum See hinunter musste man sich einfach nur rollen lassen. Matthias hatte gesagt, dass sie sich am Bootshaus der alten Mamsell treffen wollten.

Die alte Mamsell war eine pensionierte Lehrerin. Sie hatte nur Französisch unterrichtet und war unverheiratet geblieben. Ihr Grundstück am See war ein beliebter Treffpunkt für die Kinder des Stadtteils, denn das Gelände war großflächig und lud zum Spielen und Toben ein. Ihr Bootssteg war an heißen Tagen ein beliebter Schwimmplatz. Die Mamsell war fast 80 Jahre alt und sie kam kaum noch aus ihrem Haus. Noch vor wenigen Jahren war das anders gewesen. Sie war gerne mit Limonade und Kuchen zu den Kindern nach draußen gekommen. Manchmal hatte sie sogar den Grill angezündet, während die Kinder noch Verstecken oder Fußball spielten. Ihre Würstchen mit Kartoffelsalat waren in der ganzen Stadt bekannt. An den heißesten Sommertagen war sie sogar mit den Kindern schwimmen gegangen.

Das war lange her. Es hieß, dass sie krank sei und immer wieder unterwegs war zu irgendeiner Kur. Angie, die sich häufig zum Trainieren am Bootshaus aufhielt – für das Training am oder im See gab es kaum einen besseren Platz -, hatte die alte Mamsell schon seit Monaten nicht mehr gesehen. In diesem Sommer war es still um sie geworden.

Das Tor zum Grundstück stand offen. Das war nichts Ungewöhnliches. Wer das Grundstück verließ, zog meist das Tor nicht wieder zu. Angie blickte gespannt über das Gelände. Sie konnte weder Kinder noch abgestellte Fahrräder sehen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie zu früh war. Noch zehn Minuten bis zwei Uhr. Sie ging am Haus vorbei und schob ihr Fahrrad hinunter zum eigentlichen Bootshaus. Hier lag das Ruderboot der alten Mamsell. Im Grunde war es ein besserer Schuppen. Ein Boot lag hier vertäut vor Anker. Früher hatte es einen kleinen Außenbordmotor gehabt, aber den gab es schon lange nicht mehr. Im Nebenraum war eine kleine aber geräumige Werkstatt, die die Kinder in den Sommermonaten als Umkleide benutzten oder als Unterstand, wenn der Regen sie mal überraschte. All das hatte die alte Mamsell nie gestört. Sie hatte dafür gesorgt, dass ein Paar Kisten mit Cola, Sprudel und Apfelsaft hier standen.

Angie lehnte ihr Fahrrad an den Schuppen und setzte sich auf den alten Holzsteg. Hier saß sie am liebsten. Es roch nach verwittertem Holz, nach Erde und guter Seeluft. Schön war es hier. Das Schilf links und rechts schützte vor starkem Wind und vor ungewollten Blicken. Hier konnte man herrlich allein sein und nachdenken. Angies Blick ging weit aufs Wasser hinaus. Dass Wasser jedes Mal anders aussehen konnte, wunderte Angie immer wieder neu.

Noch fünf Minuten.
Und was, wenn er gar nicht käme?

„Hallo Angie.“

Angie schluckte. Das war Matthias Stimme!- Sie wollte sich umdrehen, als ob nichts weiter sei, aber wie sollte sie das machen? Verdammt, nun tu doch irgendetwas, sagte Angie zu sich selbst. Es kam ihr vor, als sei schon eine halbe Ewigkeit vergangen.

„Hallo Matthias.“
Klang das aufgeregt? Immerhin hatte sie es tatsächlich geschafft, sich nach hinten umzudrehen. Auch Matthias war mit dem Fahrrad gekommen. Es stand neben Angies angelehnt am Bootshaus. Wie aus dem Nichts stand er plötzlich da. Dass sie nichts bemerkt hatte, wunderte sie sehr. Aber sie war auch zu tief in Gedanken gewesen.

„Schön, dass du die Nachricht gefunden hast. Ich war mir gar nicht so sicher, ob du überhaupt ins Tagebuch schauen würdest, “ platzte es aus seinem lachenden Gesicht heraus. Matthias stand dort im Schein der Nachmittagssonne. Wenn er so im Lichtglanz der Sonne stand, dachte Angie, könnte man ihn tatsächlich glatt für einen Engel halten. Sahen Engel so aus? Oder hatte ihr Vater Recht? Wo waren seine Flügel? Matthias kam näher und setzte sich neben Angie auf den Steg. Da Matthias überhaupt nicht ängstlich oder aufgeregt wirkte, fasste Angie Mut.

„Sag mal… wie hast du das gemacht? Ich meine… das geht doch gar nicht.“
Matthias lächelte.
„Eigentlich hast du Recht. Aber ich habe darum gebeten, dass es eine Ausnahme gibt. Das macht die Sache leichter.“
Angie verstand nicht.
„Was soll einfacher werden?“, fragte sie. „Wen hast du gebeten?“
Matthias war noch keine zwei Minuten da und schon wurde alles wieder so seltsam wie gestern. Was passierte hier eigentlich?

„Nicht so schnell“, bat Matthias und machte eine bremsende Handbewegung. „Wenn ich zuerst davon erzähle, bekommst du nur einen falschen Eindruck. Lass uns langsamer beginnen.“
Matthias wandte sich von ihr ab und starrte nun auf den See.
„Das, was ich dir gestern erzählt habe, hat dich nicht einschlafen lassen; dass du ein Engel bist.“
Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort.
„Ich weiß, du kannst es jetzt noch nicht begreifen und du denkst, ich spinne.“
Er sah sie an und lächelte.
„Das kann niemand sofort begreifen. Mach dir also keine Sorgen. Aber ich gehe jede Wette ein, dass du das begreifen wirst! Es ist gar nicht so schwer, Angie Du musst dich nur erinnern… Ich kann dir dabei helfen, wenn du willst.“

Matthias sah Angie immer noch an, aber sie starrte an ihm vorbei ins Wasser. Sie konnte sich an gar nichts erinnern. Eine andere Sache machte ihr Sorgen. Konnte Matthias Gedanken lesen?
Matthias redete weiter
„Das ist ganz wichtig, hörst du! Wenn du nicht magst, bin ich bald wieder weg. Du musst dich frei entscheiden, ob ich dir dabei helfen soll. Deswegen bin ich gekommen. Damit du leichter begreifen kannst, dass du ein Engel bist.“
Er machte wieder eine Pause, so als ob er abwarten wollte, ob Angie alles verstanden hatte. Doch sie blieb still. Angie hörte Matthias, ohne ihn wirklich zu verstehen. Das war alles so unglaublich, wie aus einer ganz anderen Welt.

„Niemand begreift sofort, dass er im Grunde ein Engel ist.
Matthias wirkte jetzt gar nicht mehr so fröhlich. Sein Blick war weit draußen auf dem Wasser und Angie wusste nicht, ob er überhaupt noch mit ihr sprach oder gedankenverloren mit sich selbst. Sie hörte ihm zu, ebenfalls gedankenverloren, aber sehr konzentriert, obwohl es das Verrückteste war, dass sie jemals gehört hatte.

Matthias klang auf einmal nicht nur nachdenklich, sondern auch traurig.
„Kleine Kinder sind es noch. Babys kommen als Engel auf die Welt. Sie sind ein Geschenk des Himmels und als Engel gesandt. Aber je älter Kinder werden, desto mehr hindert man sie, es zu bleiben. Es ist, als ob sie es verlernen, je mehr sie in die Welt der Erwachsenen eintauchen.“
Angie fiel auf, dass Matthias jetzt blass aussah. So hatte sie sich bestimmt keinen Engel vorgestellt. Trotzdem fühlte sie, dass Matthias weder log, noch dass er verrückt war. Sie spürte plötzlich, dass er litt…

„Es ist, als ob die Kinder vergessen, woher sie stammen und wozu sie in die Welt kommen!“ Matthias pflückte sich einen kleinen Halm vom Schilfdickicht.
„Hörst du Nachrichten? Liest du die Zeitung? Schaust du Fernsehen?“
Er knickte den Halm einmal in der Mitte und schaute ihn merkwürdig an.
„Das Schlimme, dass man früher immer als das „Böse“ bezeichnet hat, existiert. Und es versucht, sich auszubreiten. Nicht nur Gott, sondern auch das Böse hat seinen Platz. Es ist wie ein Krebsgeschwür, das sich erst heimlich, dann aber unheimlich ausbreitet. Oder nimm die Spinne als Symbol für das Böse. Die Menschen werden wie von einem Spinnennetz überzogen und sie vergessen, sich zu wehren. Engel müssen helfen, dieses Netz zu zerstören. Wir müssen es zerreißen und die Menschen, die es nicht selbst fertig bringen, retten.“

Der kleine Halm war mittlerweile völlig geknickt. Unbewusst hatte Matthias ihn mehr und mehr gefaltet, so dass er schließlich völlig krumm gebogen war. Jetzt erst bemerkte es Matthias und er bemühte sich, den Halm wieder aufzurichten.
„Die Welt braucht Engel. An allen Punkten der Erde. Sie braucht Menschen, die sich für das Gute entscheiden. Wir Engel müssen versuchen, das hinzukriegen. Diese Spinne darf nicht noch mehr Menschen in ihr Netz verwickeln.“

Matthias hatte wieder auf den See gesehen und war verstummt. Dann sah er Angie direkt in die Augen.
„So wie es mehr und mehr Menschen gibt, die sich täglich entscheiden, ganz bewusst das Böse zu tun, weil sie dann leichter vorankommen, so braucht es Engel, die der bösen Spinne im Wege stehen. Du bist dazu bestimmt, ein Engel zu sein. Du musst dich nur erinnern. Das Böse hat bei dir noch keine Chance gehabt.“

Bei den letzten Worten war seine Stimme sehr leise geworden. Sie war fast nur noch ein Flüstern. Angie konnte ganz deutlich spüren, dass jedes Wort Matthias Mühe, vielleicht sogar Schmerzen bereitete. Er ließ sich jetzt nach hinten auf den Rücken gleiten und schaute geradewegs in den blauen Spätsommerhimmel. Eine dicke Wolke tauchte von Westen auf und schob sich in Richtung Sonne. Während Angie dem Blick von Matthias folgte und die Sonne von der Wolke bedroht sah, flüsterte Matthias seltsam düster und geheimnisvoll:
„Das Böse verdunkelt den Himmel. Das müssen wir verhindern, solange noch Zeit bleibt.“