Gottes kleine Faust – Kapitel 2: Matthias

Matthias war auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht. Von Susi hatte Angie erfahren, dass ihn seine Eltern in ein Internat schicken wollten, weil sein Vater im Ausland einen Job angenommen hatte und seine Mutter ihn begleiten sollte. Seine schon erwachsene Schwester hatte dann aber den Vorschlag gemacht, ihn bei sich wohnen zu lassen. Und so wohnte Matthias jetzt bei seiner Schwester und saß mit Angie zusammen in der Sportklasse des Goethe – Gymnasiums in Würzburg. So richtig wohl fühlte er sich sicherlich nicht, denn in Angies 8 a waren mehr Sportskanonen als in jeder anderen Klasse 8 des Jahrgangs. Der Neue war nur deshalb in ihrer Klasse gelandet, weil es dort relativ wenige Schüler gab.

Wenn Matthias, abgesehen von seiner Schlaksigkeit, auch durchaus sportlich wirkte, glaubte Angie nicht, dass er hier richtig war. Irgendwie merkte sie sofort, dass er andere Dinge wichtiger nahm. Die Pause verbrachte er nicht wie die anderen auf dem benachbarten Sportfeld. Er saß stattdessen auf einer Bank und machte einfach g a r n i c h t s. Das war ungewöhnlich für einen Sportklassenschüler und damit schien die Rolle des Außenseiters schon mal vorprogrammiert. Das konnte ja heiter werden.

Angie selbst war wegen ihrer überragenden Schwimmleistungen in die Sportklasse aufgenommen worden und Frau Kramer, ihre Trainerin, hielt große Stücke auf sie. Angies Eltern hätten die Wohnzimmerwände mit den Urkunden der letzten Jahre tapezieren können. Aber Gott sei Dank brachte sie niemand auf diese Idee.

Dass Matthias in Ordnung war, hatte Angie instinktiv sofort gespürt. Da ihr Klassenlehrer Herr Walke, sie hatten neben Sport auch Erdkunde bei ihm, den Neuen nur eine Tischreihe vor sie neben Dennis setzte, konnte Angie Matthias beobachten.

Matthias war nicht nur groß, alles an ihm wirkte irgendwie riesig. Seine Hände, seine Nase, seine Ohren, sogar seine Augen schienen ungewöhnlich groß zu sein. Mit seinen schwarzen Locken, die ihm überlang auf die Schultern fielen, wirkte er von hinten beinahe wie ein Mädchen, doch machten die eher männlichen Schultern und vor allem seine „Schaufeln“ von Händen diesen Eindruck wieder wett. Wie überhaupt diese Hände Angies Aufmerksamkeit weckten. Sie konnte sehen, wie er immer wieder die Finger der rechten Hand merkwürdig zu einer Art „Krokodil“ formte: die Fingerkuppe des kleinen Fingers berührte sanft die Kuppe des Daumens, während die anderen drei Finger wie eine Art Dach darüber schwebten. War das Zufall? Maß Angie den Fingern, der Hand und Matthias überhaupt zuviel Bedeutung zu? Jedenfalls war es mit ihrer Konzentration für Mathematik an diesem ersten Morgen zunächst erst einmal vorbei. Matthias beschäftigte Angie mehr, als sie zugegeben hätte.

Keine fünf Minuten nach Schulschluss trafen sie im Fahrradkeller schon wieder aufeinander. Mutig nahm sich Angie zusammen und sprach ihn an:

„Auch mit dem Rad da?“ Kaum war der Satz draußen, hätte sie sich auf die Zunge beißen können. Dämlicher hätte sie nun wirklich kein Gespräch beginnen können. Sie war auf einmal sehr froh, dass der Keller nur schwach beleuchtet war. Das Rot ihrer Wangen konnte Matthias so wohl kaum sehen, aber sie befürchtete, dass der Raum um einige Grade wärmer würde, wenn ihr nicht schnell etwas Besseres einfiele. Matthias schaute auf und lächelte: 

„Klar! Mein Auto ist in der Werkstatt!“

Seltsamerweise fühlte sich Angie gar nicht veralbert. Beide mussten richtig laut lachen und jetzt war alles schon viel entspannter.

„Wenn du Lust hast, dann können wir ja zusammen nach Hause radeln“, fuhr Matthias fort, ohne dabei auch nur eine Spur von Unsicherheit in der Stimme. Angie war perplex, wie schnell alles ging.
„Na klar“, hörte sie sich sagen und machte sich daran, ihr Zahlenschloss zu öffnen. Mist! Musste das dumme Teil gerade jetzt klemmen?
„Soll ich mal?“ fragte Matthias, nachdem auch der zweite und dritte Versuch fehlgeschlagen waren. „Ich krieg das ganz schnell hin.“

Angie machte eine hilflose Geste, sagte aber nichts.

„Also…., darf ich?“ fragte Matthias erneut und schob sich zwischen Angie und das Rad. Sie überlegte noch, ob sie ihm wirklich die Nummer des Zahlenschlosses verraten sollte, da sah sie schon wieder diese merkwürdige Fingerhaltung der rechten Hand. Wieder lag die Kuppe des kleinen Fingers eng auf dem Daumenende und die anderen drei Finger bildeten ein schwebendes Dach. Und bevor sie irgendetwas sagen konnte, war das Schloss wie von Zauberhand geöffnet.
„Bitte schön“, sagte Matthias, als wäre alles ganz normal abgelaufen. Alles war so schnell und so „cool“ passiert, dass Angie gar nicht wusste, ob sie sich wundern sollte oder nicht. Klar, wahrscheinlich hatte das Schloss nur geklemmt. Aber hatte er es überhaupt berührt?

„Ich wohne auch draußen am See. Meine Schwester hat dort ein kleines Hotel. Ich bin einfach in eines ihrer Zimmer gezogen. Wir haben also denselben Weg. Wollen wir los?“

Irgendwie fuhren ihre Gedanken Karussell. Alles ging so schnell, dass sie es einfach nicht kapierte. Woher wusste Matthias, wo sie wohnte? Hatte er sie heute Morgen beobachtet? Sie hatte ihn nicht bemerkt. Wie hätte sie ihn auch bemerken sollen? Am Morgen war alles noch so normal gewesen. Angie war überrascht.
„Das ist wirklich nicht weit von mir. Ich bin fast nebenan zu Hause. Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“
„Ich weiß es eben, “ grinste er und schob sein Fahrrad hinaus auf den Schulhof. Angie legte den Kopf leicht schräg. Sie mochte es nicht, wenn sie in der Defensive war.

Matthias wartete draußen auf sie und schob gleich nach:
„Ich glaube, du bist schwer in Ordnung. So wie du heute für Lena eingetreten bist, war das extrem okay!“

Das traf! Keiner der Jungen ihrer Klasse hätte so einen Satz zu ihr gesagt. Die hätten sich lieber „weg geschämt“, bevor sie so etwas zu einem Mädchen gesagt hätten. Was sollte sie jetzt darauf erwidern? Das Gespräch lief in eine Richtung, die sie nicht erwartet hatte. Und es kam noch schräger.

Sie waren den kurzen aber steilen Abhang hinunter über die Straße zum Fahrradweg am Fluss hintereinander und sehr schnell gefahren, ohne miteinander zu sprechen. Nun aber, auf dem breiten Teerweg, fuhren sie langsamer und nebeneinander.

„Stimmt es, dass deine Eltern im Ausland sind und dich nicht mitnehmen können?“ setzte Angie – jetzt schon etwas sicherer als im Fahrradkeller – das Gespräch fort. Matthias blickte zur Seite, lächelte sie kurz an, schaute aber schon wieder nach vorne und sagte:
„Sagt wer?“
Angie, die Susi nicht verraten wollte, auch wenn sie nicht wusste, was daran schlimm sein könnte, wich aus:
„Na ja, alle eben.“

Und jetzt begann das Unglaubliche, das ihr niemand, nicht einmal Susi, später abnehmen würde.